Montag, 2. Dezember 2013

Brüll doch nicht so!

Ich lebe seit 20 Jahren mit einem Tinnitus. Eigentlich sogar mit zweien. 4 kHz auf dem linken Ohr, 2 kHz auf dem rechten. Beides nicht so laut, dass es eine umfangreiche Therapie rechtfertigt oder im Alltag störend wäre. Naja so ganz stimmt das nicht, denn störend ist das schon, nur anders als die Meisten denken.
Ich möchte mal veranschaulichen wie es ist mit einem Tinnitus zu leben und was das für den Betroffenen heißt, denn den Satz oben "Brüll doch nicht so!" den höre ich sehr häufig und eigentlich kann ich nichts dafür.

Ein Tinnitusgeräusch ist ein Sinuston in einer bestimmten Frequenz, der nicht wieder verschwindet (wie beispielsweise bei einem Konzert). Anhören kann man sich das HIER

Ich habe also zwei Pfeifgeräusche, eines links und eines rechts. Beide sind unterschiedlich. Von der Lautstärke her höre ich sie nur, wenn es ruhig ist. Wenn ich schlafen will, nehme ich sie sehr deutlich wahr. Also insgesamt im erträglichen Bereich. Dazu kommt noch eine erblich bedingte Hörschwäche. Nicht sehr stark ausgeprägt, aber es sind eben keine 100%. Was passiert nun? Ich höre grundsätzlich also nur mit 85% und dann werden die Frequenzbereiche 2 und 4 kHz mit einem Ton überlagert, so dass die Hörfähigkeit auf diesem Bereich stark abnimmt und ich erst etwas höre, wenn es deutlich lauter ist als der Ton in meinem Ohr. Leider liegt auf diesem Frequenzband die menschliche Sprache.

Für mich nuschelt also jeder. Noch dazu werden Worte zu Wortfetzen, weil Teile des Wortes auf meinem Sinuston liegen.

Mein Gesprächspartner sagt: "Wenn ich nachher nach hause komme mach ich erst mal die PS4 an."
Ich höre: "Wenn *ch nach**r *ach **se **mme m*ch *ch **st ma* d** **ier *n."
Jetzt muss ich das gehörte irgendwie interpretieren. Nicht nur, dass ich einen Moment brauche um das Gehörte zu sortieren und daraus einen Sinn zu stricken - und mein Gegenüber denkt schon ich bin schwer von Begriff - nein, ich frage ihn dann auch noch, welches Bier er denn gerne trinken möchte.
Meistens ist es recht einfach, weil sich das gesagte ja aus dem Kontext ergibt, aber bei Themensprüngen ist es problematisch. Schlimmer wird es, wenn Nebengeräusche auftreten. Beispielsweise im Büro, da geht dann mal der Schredder mitten im Gespräch an und der überlagert dann die restlichen Frequenzbereiche auch noch. Dann bleibt von dem Satz oben nicht mehr viel als die Länge übrig. Wenn andere Gespräche gleichzeitig laufen ist das genauso schwer, denn dann kann man die Gespräche nicht voneinander trennen und es wird nur noch Wortsalat. In einer Kneipe bspw., womöglich noch mit Musik, ist das ziemlich blöde. Wenn man erst mal zwei oder drei Sätze verpasst hat, dann kann man dem Gespräch eh nicht mehr folgen und gibt es schnell ganz auf. Führt dazu, dass ich in größeren Runden sehr still werde. Nicht, weil ich nichts zu sagen habe, sondern weil ich nicht mehr weiß worüber gesprochen wird.

Das hat ziemlich direkte Auswirkungen auf das Leben. Ich gehe ungern in Kneipen oder Lokale wo Musik gespielt wird, oder überhaupt an laute Orte. Ich begebe mich auch ungern in größere Gruppen wo durcheinander gesprochen wird oder mehrere Gespräche gleichzeitig laufen. Ich muss häufig nachfragen, was jemand gesagt hat. Ich brauche teilweise für eine Antwort etwas länger, weil ich mir das gesagte erst zusammen reimen muss. Ich gebe auch häufig unsinnige Antworten, weil ich es falsch interpretiert habe.

Wenn man nun schlecht hört, neigt man dazu auch automatisch lauter zu reden. Ich versuche nun schon immer sehr ruhig zu sprechen aber je nach Situation achtet man da nicht immer drauf. Und dann heißt es schon oft "Brüll doch nicht so", "Warum schreist du denn so rum", "Wir hören dich alle schon sehr gut" oder "ich bin nicht taub". Das kommt auch häufig mit einem genervten oder auch anklagenden Ton.
Für blinde gibt es Blindenbinden, aber sowas wie Taubenbinden gibt es nicht. Ich war schon am überlegen ein T-Shirt zu drucken "Tinnitus - bitte deutlich sprechen!".

Wenn ich Musik höre bekomme ich häufig zu hören "mach das nicht so laut! Deine armen Ohren, die gehen noch kaputt." Um genau zu sein, sind sie ja schon kaputt, ich höre das ganze ja gar nicht so laut wie andere. Vor allem höre ich es nicht so differenziert. Ich muss alles, Hörbucher oder Musik so laut drehen, dass es meinen Tinnitus sicher übertönt, damit ich es voll und ganz wahrnehme. Das ist dann auch für mich ein Hörgenuss, denn ich höre quasi "mehr" als auf normaler Lautstärke, mit ein Grund warum ich beim Musikhören gerne aufdrehe. Da kommen Töne und Frequenzen an, die ich sonst ja gar nicht wahr nehme. Ich bin deshalb auch kein Freund von Kompression. 192kBit sind das absolute Minimum, 128 eine Zumutung. Auch ein Grund, warum ich mir eine große Anlage für mein Wohnzimmer kaufen möchte und gerne ins Kino gehe. Gute Boxen geben den Ton wesentlich differenzierter wieder als kleine billige. Oft werde ich dann gefragt "muss der Subwoofer so laut sein?". Ja muss er, denn das sind Frequenzbereiche, die ich voll wahrnehme, ohne Störung. Ich würde mir ja gerne ein sattes paar Teufel Lautsprecher (1000 €) ins Wohnzimmer stellen und für den ungestörten Hörgenuss einen Sennheiser Kopfhörer (400 €) leisten. Leider kann ich das nicht.

Abends, wenn ich schlafen möchte, und Ruhe einkehrt, dann kommen die Töne voll heraus und begleiten mich die ganze Nacht. Je nachdem wie anstrengend und Stressreich ein Tag war, werden es dann auch mal mehrere Töne, dann kommen noch tiefere und lautere dazu, diese klingen aber nach einer Weile wieder ab. Aber die 2 und 4 kHz Sinus Töne bleiben. Ich mache mir seit Jahren ein Hörbuch an. Gerade so laut, dass ich es verstehe - so laut also dass es den Tinnitus begleitet. Dabei kann ich gut einschlafen, das ist so eine Art Grundrauschen. Generell hat der Stressfaktor bei einem Tinnitus immer ein Gewicht, je mehr Stress man hat, desto lauter kann der Ton werden, desto mehr Töne kommen dazu und desto mehr nimmt man die Töne auch wahr.

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